Bei einer Bilder-Recherche wurde Rainer Großimlinghaus heute insofern fündig, dass er eine CD im Netz fand, die uns noch in keiner Weise bekannt war. Diese CD wird unsere Diskographie bereichern weil sie aus dem Jahre 1958 stammt. Es handelt sich um eine Aufnahme von der ersten Konzertreise nach dem 2. Weltkrieg ins Ausland im Jahre 1958. Der Musikverein führte u.a. die 9. Symphonie unter Eugen Szenkar auf. Das Konzert fand im Théàtre National de Chaillot statt und wurde von den St. Laurent Studios Paris aufgenommen.

1958: 9. Symphonie in Paris mit Eugen Szenkar

Eugen Szenkar dirigierte das Orchestre Philharmonique de la RTF. Es sangen Clara Ebers, Sopran, Nan Merriman, Alt, Helmut Krebs, Tenor und Otto von Rohr, Bass. Dieser Fund begeistert uns in besonderem Maße, da wir lange mit den französischen Behörden (INA) nach Aufnahmen gesucht haben.

Im Titel des Beitrages erwähne ich den sog. "Dachbodenfund". Hierbei handelt es sich um den Fund eines freundlichen Wieners, der auf seinem Dachboden einen Rundfunkmittschnitt aus Frankreich fand. Es handelte sich um die "Missa Solemnis" unter der Leitung von Eugen Szenkar in der Kirche St. Roch in Paris bei eben dieser Konzertreise des Jahres 1958. So schätzen wir uns glücklich, dass wir die beiden in Paris aufgeführten Werke nun als Tondokumente in unserem Besitz haben.

Zur Zeit befinde ich mich in den Recherchen zur Fertigstellung bzw. Ergänzung der Seite "Lebenslauf/Chronik" des Städtischen Musikvereins. Hierzu bin ich auch im engen Kontakt mit Rainer Großimlinghaus. So habe ich aktuell in Lebenslauf/Chronik Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus eingefügt, die der interessierte Leser unter dem Stichwort "Bewegte Zeiten" finden kann. Es handelt sich hierbei um sehr interessante Hintergrundinformation zu den vielen Ereignissen in den Jahren 1975 bis 1990. Außerdem optimieren wir im Moment die Bilder der Dirigenten, mit denen wir nach 1945 eine Zusammenarbeit hatten. Diese können Sie auf der Seite "Zusammenarbeit" finden.

Die Seite Lebenslauf/Chronik ist in immerwährender Überarbeitung. Viele Lücken gibt es noch ab dem Jahre 2010. Diese Lücken werde ich in den nächsten Monaten füllen und trage mich mit der Hoffnung, dass ich das Werk bis zum Ende meiner Zeit als Vorsitzender zum Jahresende fertigstellen kann.

Manfred Hill - Ehrenvorsitzender-

am 8.5.2021 - 20.00 Uhr

 

David Shallon in Düsseldorf - Einige persönliche Erinnerungen

Mit Gustav Mahler eröffnete und schloss David Shallon seine sechs Spielzeiten als Chefdirigent der Düsseldorfer Symphoniker: Am 17. September 1987 führte er Mahlers musikalische Antwort auf Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“, die abendfülllende Dritte Symphonie, zu einem umjubelten Erfolg. Am 13. Juni 1993 verabschiedete er sich mit Mahlers schwärzestem Werk vom Düsseldorfer Publikum: der Sechsten Sinfonie mit ihren vernichtenden Hammerschlägen. Ein programmatischer Kreis war geschlossen, eine (fast) zyklische Aufführung von immerhin sechs Mahler-Sinfonien vollendet.

Energie

Erstmals begegnete ich David Shallon während der unmittelbaren Vorbereitungen zur Spielzeit 1987/88: ein schneller, agiler Mensch, der wusste, was er wollte, und auch keine Angst davor hatte es einzufordern. Gleichzeitig vermittelte er eine ungeheure Vorfreude auf seine neue Aufgabe. Ich hatte erst wenige Wochen zuvor, frisch von der Universität kommend, in Düsseldorf meine erste feste Stelle als Dramaturgin und Mitarbeiterin im Orchesterbüro angetreten. David Shallon behandelte nicht nur den Intendanten, den Orchestervorstand oder die Konzertmeister auf Augenhöhe, sondern alle, die für das Orchester oder die Tonhalle Düsseldorf arbeiteten. So sah er auch mir etliche grobe Anfängerfehler ohne großes Aufheben nach. Erst später begriff ich, dass er zu einer neuen Generation, einem neuen Dirigenten-Typ zählte: Kein „Maestro“ im affektierten Sinne, sondern ein leidenschaftlicher Arbeiter für die Musik. Seine Lust am Musizieren, seine Freude an der Vielfalt des musikalischen Repertoires und nicht zuletzt sein Respekt vor den Menschen, mit denen und für die er musizierte, machten die besondere Energie aus, die er zu den Düsseldorfer Symphonikern, dem Chor des Städtischen Musikvereins und zum Düsseldorfer Publikum brachte.

Tatsächlich war die Spielzeiteröffnung am 17. September 1987 David Shallons Debüt in Düsseldorf. Er hatte das Orchester niemals zuvor dirigiert, sondern war eine Empfehlung von Dr. Peter Girth, der seit 1986 die neu eingerichtete Stelle des Düsseldorfer Orchesterintendanten innehatte. Eine Düsseldorfer Delegation aus Orchester und Kulturpolitik hatte David Shallons Konzerte u.a. in Frankfurt besucht und sich für ihn als neuen Chefdirigenten entschieden. Man erhoffte sich einen Aufbruch und ein neues Kapitel in der Düsseldorfer Orchestergeschichte – Herausforderungen, die David Shallon gerne annahm.

Doch in meinen Augen ist es charakteristisch, mit welch großer Geste er seinem Vorgänger Bernhard Klee, der zehn Jahre die Geschicke des Orchesters und der Tonhalle bestimmt hatte, Respekt zollte. Klee hatte sich in seinen Programmen konsequent auf die erste und zweite Wiener Schule von Haydn bis Schönberg und auf die französische Moderne von Debussy bis Messiaen fokussiert und mit Mahlers Zweiter Sinfonie („Auferstehung“) von Düsseldorf im Juni 1987 verabschiedet. David Shallons Debüt mit Mahlers Dritter nahm diesen Staffelstab bewusst – selbstbewusst und bescheiden zugleich – auf. Die folgenden Konzerte und Spielzeiten brachten jedoch unmittelbar den erhofften „frischen Wind“ in das Repertoire der Düsseldorfer Symphoniker.

Vielfalt

 „Wie das vorliegende Konzertprogramm bezeugt, liegt es mir besonders am Herzen, gemeinsam mit dem Orchester das Repertoire zu erweitern und dem Publikum ein vielfältiges und attraktives Programm zu bieten. Um die natürliche Neugier des Düsseldorfer Publikums zu befriedigen, will ich so viele Stilrichtungen wie möglich aufgreifen und Wiederholungen gleicher Komponisten vermeiden. Man wird neben den Standardwerken der Konzertliteratur auch weniger bekannten Werken großer Komponisten sowie einigen neuen Namen begegnen. … Unsere musikalische Reise wird uns in dieser Spielzeit über vier Jahrhunderte vom Venedig des Giovanni Gabrieli bis zum heutigen Polen des Krzysztof Penderecki führen. Dies ist, glaube ich, der beste Weg, dass Orchester und Dirigent einander kennenlernen und sich gemeinsam weiterentwickeln.“  

Ein klares Ziel, das David Shallon im Vorwort zur seiner ersten Jahresvorschau 1987/88 ohne große Umschweife formulierte: attraktive Vielfalt. Und er hielt es ein. Er hatte die Programme der Düsseldorfer Symphoniker nach dem Zweiten Weltkrieg genau studiert – und ich erinnere mich noch sehr gut an die Überraschung, ja die Ungläubigkeit, mit der er auf blinde Flecken im Repertoire gestoßen war. Diese betrafen vor allem die britische und die amerikanische Musik, die aktuelle KomponistInnen-Szene, aber auch die französische Romantik.

Insgesamt sind über hundert Düsseldorfer Erstaufführungen in den von David Shallon verantworteten sechs Spielzeiten zu finden. Er selbst dirigierte Schlachtrösser der zeitgenössischen Musik wie Henzes Siebte Sinfonie oder Gubaidulinas „Stimmen … verstummen …“, aber auch sehr überraschende Düsseldorfer „Premieren“ wie das Violinkonzert von Elgar oder die Maurerische Trauermusik von Mozart, die nie den Weg in die Abonnementkonzerte der Düsseldorfer Symphoniker gefunden hatten. Ganze Aufführungszyklen widmete er Komponisten, die damals aus einer intellektuell-puristischen Perspektive weniger wertgeschätzt wurden: Benjamin Britten, Edward Elgar, Hector Berlioz und Igor Strawinsky. Ein besonderes Herzensanliegen war ihm die Aufführung der drei Sinfonien seines Mentors Leonard Bernstein.

Gemeinsam mit Girth, der als ehemaliger Intendant der Berliner Philharmoniker über hervorragende Kontakte (die damals noch per Telefon und Telex liefen) verfügte, konzipierte er eine Serie, in der weltberühmte Komponisten eigene Werke dirigierten: Krzysztof Penderecki (1988), Witold Lutoslawski (1989), Mauricio Kagel (1989), Cristóbal Halffter (1990), Hans Werner Henze (1992, wegen der Erkrankung des Komponisten dirigiert von Christopher Keene), Peter Maxwell Davies (1992) und außerdem Maxim Schostakowitsch mit Musik seines Vaters Dmitri (1991), die nach dem Ende des Kalten Krieges ihren endgültigen Siegeszug in den westlichen Konzertsälen antrat.

Überraschend erscheint in diesem Zusammenhang, dass sich in all diesen Programmen nur zwei Uraufführungen finden: die Sinfonie „Janusz Korczak“ des Düsseldorfer Komponisten Oskar Gottlieb Blarr (1992) und Claude Debussys (als vierhändiges Klaviermanuskript erhaltene) Jugend-Sinfonie h-moll in der Orchestrierung von Noam Sheriff. David Shallon setzte einen anderen Schwerpunkt: die Vielfalt des vorhandenen Repertoires im 20. Jahrhundert dem Publikum überhaupt erst zugänglich zu machen. Dabei wollte er die Konzertbesucher jedoch nicht überfordern. Ein Beispiel: Für den November 1989 war der Grandseigneur der polnischen Musik, Witold Lutoslawski, eingeladen worden, eigene Werke bei den Düsseldorfer Symphonikern zu dirigieren. Um das Publikum mit diesem Komponisten vertraut zu machen, dirigierte David Shallon in der Spielzeit zuvor dessen mitreißendes „Konzert für Orchester“, ein frühes Werk aus dem Jahr 1954. Als eine prägnante Akkord-Sequenz kurz nach Beginn des Stücks erklang, ging ein merkliches Raunen und Staunen durch die Sitzreihen der Tonhalle: Vielen HörerInnen waren diese Takte als Eröffnungsfanfare des „ZDF-Magazins“ bestens bekannt – ein Effekt, den David Shallon bewusst einkalkuliert hatte, um die Akzeptanz dieses unbekannten Werks eines zeitgenössischen Komponisten zu fördern.

Einmal verlief es aber genau umgekehrt: Mein Dramaturgen-Kollege Uwe Schendel und ich waren begeistert von der Idee, Henzes Siebte Sinfonie, die David Shallon 1985 und 1986 bereits bei den Orchestern des Bayerischen und des Westdeutschen Rundfunks dirigiert hatte, auch in Düsseldorf aufzuführen. Er war zunächst zögerlich und unsicher, ob es nicht „zu früh“ sei, dieses anspruchsvolle Werk in den Spielplan aufzunehmen. Am Ende siegte David Shallons (reichlich vorhandener) Mut zum Risiko: Im September 1989 kam das Werk – publikumswirksam gekoppelt mit Tschaikowskys Violinkonzert – zur Aufführung. Als Hans Werner Henze knapp drei Jahre später sein symphonisches Portraitkonzert in Düsseldorf besuchte, standen wesentliche kürzere und zugänglichere Kompositionen auf dem Programm.

Aber auch im scheinbar bekannten 19. Jahrhundert achtete David Shallon auf neue Perspektiven, ohne das Bekannte, die populären „Standardwerke“ zu vernachlässigen. Eines meiner beeindruckendsten Konzert-Erlebnisse überhaupt waren die Aufführungen von Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ im Juni 1989 – sicherlich eine der meist gespielten romantischen Sinfonien, auch in Düsseldorf. Aber David Shallon koppelte sie mit der Fortsetzung, die Berlioz dazu komponiert hatte: „Lélio ou le retour à la vie“, ein (wie man heute sagen würde) multimediales Melodram, das so gut wie nie im Konzertsaal erklingt. David Shallon wagte es sogar, den gesamten dazugehörigen Text auf Französisch deklamieren zu lassen. Und so durfte das Düsseldorfer Publikum nicht nur eine absolute musikalische Rarität erleben, sondern die Rezitationskunst des französischen Schauspielers Paul-Emile Deiber bestaunen, der auswendig und ohne Mikrofon Berlioz’ autobiografische Reflexionen im Kuppelsaal der Tonhalle zum Leben erweckte.

Spannung

Eine Novität ganz anderer Art waren für die Düsseldorfer die symphonischen Karikaturen von Gerard Hoffnung, die David Shallon in seinem ersten Neujahrskonzert 1988 präsentierte. Während wir in den Wochen davor im Orchesterbüro damit beschäftigt waren, für den Neujahrsmorgen zwölf (!) ausgeschlafene Bühnentrompeter für die „Ouvertüre Leonore Nr. 4“ zusammenzutrommeln (am Ende rettete uns die Trompetenklasse der Kölner Musikhochschule), gelang es David Shallon und Peter Girth, Düsseldorfer Prominenz wie Gabriele Henkel und Hete Hünermann, den damaligen japanischen Generalkonsul Tsuyoshi Kurokawa und den Kulturdezernenten Bernd Dieckmann als hochkarätiges Solistenquartett mit konzertierenden Staubsaugern auf die Bühne dieses „Hoffnung“-svollen Neujahrskonzerts zu bringen.

Die gute Stimmung des Saisonstarts sollte jedoch nicht lange anhalten. Peter Girth hatte als Intendant der Düsseldorfer Symphoniker auch den Auftrag, das gesamte städtische Konzertleben neu aufzustellen – und er tat dies in dieser ersten Saison 1987/88 mit einem Paukenschlag: mehr als 40 zusätzliche Konzerte unter dem Motto „Jugend + Neue Musik“, ein weites Spektrum von Kinderkonzerten über französische Barockmusik, Haydnsche Kammermusik bis zum Jazz und zur Neuen Musik. (1988 lag in dieser Serie ein programmatischer Schwerpunkt auf der sogenannten „Entarteten Musik“ und der Rekonstruktion der gleichnamigen Ausstellung von 1938 in Düsseldorf.) Für David Shallon stand das Orchester voll und ganz im Zentrum seiner Aufmerksamkeit – für den Intendanten konnte es nur ein Teil seiner Arbeit sein. Peter Girth wurde oft Arroganz vorgeworfen – eine Charaktereigenschaft, die ich persönlich nie an ihm erlebt habe, sondern im Gegenteil eine große, kreative Offenheit. Aber er konnte sehr ironisch werden und sagte unverblümt seine Meinung. Bald wurden die ersten Unstimmigkeiten zwischen Intendant und Chefdirigent zumindest für uns Mitarbeitende sichtbar.

Im Juni 1988 kam es zum ersten großen Eklat: Wir probten die Aufführung von Berlioz’ „La damnation de Faust“, Girth befand sich auf Dienstreise in Salzburg und am Tag vor der Premiere erkrankte der Tenor. David Shallon war außer sich, dass der Intendant während einer so wichtigen Probenphase nicht im Hause war – und dann packte er einfach mit an, wie es seine Art war: Nach der Abendprobe telefonierten wir anhand unserer Adresslisten KonzertagentInnen, Sänger und Opernhäuser durch – und unser Glück war es, dass in den USA gerade der Arbeitstag begann. So wurden wir mit dem amerikanischen Tenor Jon Garrison fündig, der schnurstracks in den Flieger stieg und rechtzeitig zur Aufführung eintraf (wie übrigens auch der Intendant). Nach diesem Ereignis war das Vertrauensverhältnis zwischen Chefdirigent und Intendant nachhaltig beschädigt. Girth gelang es in Folge, sich auch mit der politischen Stadtspitze zu überwerfen; sachlich lag er richtig, diplomatisch falsch. Wie in Berlin verließ er auch die Düsseldorfer Intendanz abrupt und im Unfrieden – nach einem von David Shallon dirigierten Konzert zum 125-jährigen Jubiläum der Düsseldorfer Symphoniker im November 1989. (Von 1991 bis 1996 leitete Girth dann erfolgreich das Staatstheater Darmstadt.) Die Saison 1990/91 planten wir im Team: David Shallon, Hermann Backes (Cellist der Düsseldorfer Symphoniker und späterer Musikredakteur im MDR Leipzig), mein Kollege Uwe Schendel und ich. Eine von uns allen als sehr schön empfundene, aber auch arbeitsreiche Zeit.

Ab 1991 stand Freimut Richter-Hansen, der von Bühnenverein gekommen war, David Shallon als Intendant zu Seite. Während Girth sich durch Bravado ausgezeichnet hatte, arbeitete Richter-Hansen bedächtig und skrupulös: ebenfalls kein idealer Partner für den agilen, temperamentvollen Dirigenten. Bis heute bin ich der festen Überzeugung, dass das Zerwürfnis zwischen David Shallon und Peter Girth ein großer Verlust für das Düsseldorfer Musikleben gewesen ist – hätten diese beiden kreativen „Feuerköpfe“ eine Basis für die Zusammenarbeit gefunden, hätte der 1987 ersehnte Aufbruch nachhaltig gelingen, sich Düsseldorf zu einer wirklichen Musikmetropole entwickeln können.

Größe

Eine Düsseldorfer Besonderheit sind Qualität und Anspruch des Städtischen Musikvereins. Ihm war im 19. Jahrhundert die Anstellung so prominenter Musikdirektoren wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann und nicht zuletzt auch die Gründung des städtischen Orchesters zu verdanken. In den 1970er Jahren hatte sich der Chor zu einem international gefragten Klangkörper entwickelt. So kam es auch zu der etwas skurrilen Situation, dass David Shallon „seinen“ Chor das erste Mal nicht in Düsseldorf, sondern in Jerusalem dirigierte: am 28. Dezember 1987 mit Orffs „Carmina burana“. Auch das zweite gemeinsame Programm fand „auswärts“ statt: Im Mai 1988 sang der Städtische Musikverein Berlioz‘ „La damnation de Faust“ in Helsinki, bevor einen Monat später die eben beschriebene turbulente Konzertwoche in Düsseldorf stattfand.

„La damnation de Faust“ wurde zu einem Schlüsselwerk für David Shallons Düsseldorfer Amtszeit – denn damit ging es auch im Mai 1989 auf Tournee in die DDR. Die Konzertreise war vom Städtischen Musikverein angeregt und über Jahre verhandelt worden. Aber erst jetzt realisierten sich die Pläne – während die Montagsdemonstrationen und die friedliche Revolution in vollem Gange waren. In einem zweiten Konzertprogramm standen die Zweite Sinfonie „Lobgesang“ von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Missa sacra von Robert Schumann auf dem Tournee-Programm. Insgesamt dirigierte David Shallon zwei Konzerte im Schauspielhaus (heute: Konzerthaus) Berlin, einen Abend bei den Musikfestspielen im Dresdner Kulturpalast und drei Konzerte im Gewandhaus Leipzig. Alle Aufführungen wurden vom Rundfunk der DDR mitgeschnitten und in Kooperation mit dem WDR oder dem DLF produziert, das Eröffnungskonzert der Tournee sogar für das Fernsehen der DDR in Zusammenarbeit mit dem Westdeutschen Fernsehen, Köln – eine Großtat in außerordentlichen Zeiten.

Damals habe ich kaum begriffen, welche Bedeutung diese Tournee für David Shallon gehabt haben muss. Als Israeli einer deutsch-deutschen kulturellen Begegnung von solch hoher öffentlicher Sichtbarkeit vorzustehen, vor dem Kulturpalast in Dresden die israelische Flagge wehen zu sehen und nach dem ersten Leipziger Konzert beim Empfang Kurt Masur zu begegnen, geht weit über das persönliche Erleben von Stolz und Freude, ja selbst über die Musik hinaus. Diese Reise unter der Stabführung von David Shallon wurde zu einem Ereignis politischer Verständigung. Die Gesten auf Seiten der musikalischen Partner und des Publikums in DDR waren überwältigend und im Rückblick dürfen wir sie als Vorboten der Zeitenwende und des – bis dahin für unmöglich gehaltenen – Mauerfalls wenige Monate später deuten.

Respekt

Besonders in Erinnerung wird mir David Shallons Wertschätzung für die Menschen, mit denen er musizierte, bleiben. Ich glaube, dass er sich sehr stark als aktiver Teil einer großen musikalischen Tradition identifiziert hat. Selbst ein hervorragender und passionierter Geiger, lud er eine Legende wie Ivry Gitlis zu den Düsseldorfer Symphonikern ein. Für mich war es überwältigend, unter seiner Leitung die großen Britten-Interpreten Heather Harper und John Shirley-Quirk im „War Requiem“ zu erleben oder den französischen Belcantisten José van Dam als Berlioz’ Mephisto. Ich erinnere mich immer wieder an die ehrliche, ansteckende Freude in seinem Gesicht, wenn er herausragende Solisten und Solistinnen bei „seinem“ Orchester begrüßen konnte. Doch auch die Stimmführer aus den Reihen der Düsseldorfer Symphoniker bekamen unter seiner Ägide eine neue Sichtbarkeit: als Solisten in Solo-Konzerten oder in großen Kammermusiken.

Eine ganz besondere musikalische Begegnung fand im Juni 1991 während des Schumannfests in Düsseldorf statt: Hier konnte man David Shallon als Geiger mit dem „Cherubini-Quartett & Freunde“ (darunter Shallons Ehefrau, die Bratschistin Tabea Zimmermann) im Oktett von Felix Mendelsohn Bartholdy erleben – kritisch beobachtet von zahlreichen GeigerInnen aus den Reihen der Düsseldorfer Symphoniker im Publikum. „Das macht er ja richtig gut“, lautete das einhellige Fazit. Kein Wunder – denn Kommunikation mit anderen Menschen, im Orchester, mit SolistInnen, in der Kammermusik, mit dem Publikum war die Basis von David Shallons Musizieren.

Lange bevor große Orchester den Blick auf ein junges Publikum wendeten, konzipierte er für seine ersten beiden Saisons thematische Jugendkonzerte, die er selbst moderierte. Über die Bedeutung einer solchen Arbeit waren Peter Girth und er sich vollkommen einig – und ihrer Zeit weit voraus.

Mut

Für den Februar 1990 hatte David Shallon die Aufführung von Schostakowitschs Sinfonie Nr. 13 „Babi Jar“ (in Verbindung mit Schuberts „Unvollendeter“) geplant. Die Komposition auf Texte des Dichters Jewgeni Jewtuschenko ist ein Mahnmal für das Massaker, das 1941 von der deutschen Wehrmacht an 40 000 jüdischen Frauen, Kindern und Männern im Tal von Babi Jar nahe Kiew verübt wurde. Heutzutage ist Schostakowitsch einer der meist gespielten Komponisten überhaupt, 1990 war das noch nicht der Fall: Auch jene düstere, anklagende Sinfonie war eine von David Shallons vielen Erstaufführungen für Düsseldorf. Wichtiger aber war ihm das Thema – der Blick auf die grauenvolle Geschichte, aber auch die versöhnende Möglichkeit der Musik.

Diese Sinfonie erfordert neben einem Männerchor einen herausragenden Bass-Solisten – und er war in Düsseldorf gefunden worden: Peter Meven, Solist der Deutschen Oper am Rhein. Aber auch gute Sänger können erkranken. Peter Meven versuchte trotz Erkältung und durch medizinische Behandlung gestärkt die Premiere am Donnerstag, 1. Februar, zu singen. Ich hatte die Aufgabe, vor der Aufführung die Indisposition anzusagen, aber es half nichts: Mitten im ersten Satz „Es steht kein Denkmal über Babi Jar“ musste der Sänger die Aufführung abbrechen.

Wieder einmal mussten wir mitten in der Nacht telefonieren – aber diesmal gelang es uns nicht, bis zum nächsten Tag einen Ersatz für die schwierige und nicht allgemein geläufige Partie zu finden. Was nun? Am folgenden Freitagmorgen hatten mein Dramaturgenkollege und ich in der Krisensitzung mit David Shallon eine aberwitzige Idee: Die Düsseldorfer Symphoniker, die als Orchester der Deutschen Oper am Rhein während der Konzertwochen (zur Verzweiflung aller Chefdirigenten) auch Operndienste zu leisten hatten, spielten gerade in diesen Tagen einen Ballettabend mit „Le sacre du printemps“. Das Stück hatte das Orchester also „drauf“ – wie wäre es, wenn David Shallon am Freitagabend statt der Schostakowitsch-Sinfonie Strawinskys spektakuläres Werk dirigieren würde? Bis heute frage ich mich, wie wir auf diese hanebüchene Idee kommen konnten. Aber David Shallon griff sie sofort mit Lust an der Herausforderung auf. Die folgenden Stunden verbrachten mein Kollege und ich damit, die am Konzert beteiligten MusikerInnen anzurufen und über die Programmänderung zu informieren. Überraschenderweise überwog auch hier der Optimismus … und am Abend dirigierte David Shallon ohne Probe bravourös das rhythmisch vertrackte Werk. Es wurde ein Riesenerfolg. Ich saß während der Aufführung hinter dem Podium und konnte Shallon in seiner ganzen Energie und Verve bewundern. Ich konnte aber auch beobachten, wie er zwischendurch immer wieder hektisch an seiner Frackschleife zog, um sich mehr Raum zum Atmen zu verschaffen. Hinterher, in der Garderobe, gestand er mir, dass er asthmatische Atemnot während der Aufführung bekommen hatte – die Anspannung war doch groß, fast zu groß gewesen.

Für den Sonntag hatte David Shallon schließlich aufgrund seiner persönlichen Beziehungen einen wunderbaren Bass-Solisten gewonnen: John Shirley-Quirk. So konnte wenigstens am 4. Februar 1990 Schostakowitschs Sinfonie Nr. 13 in der Tonhalle aufgeführt und damit auch wie geplant als CD produziert werden.

Die Erlebnisse dieser Konzertwoche fassen für mich wie in einem Brennspiegel zusammen, was David Shallon als Musiker und Mensch ausmachte: die große Identifikation mit den Werken, die er auf seine Programme setzte, die Schnelligkeit und Anpassungsfähigkeit seiner Entscheidungen, der Mut zum Risiko – allerdings auch ohne Rücksicht auf sich selbst. Doch diese Lust an der Herausforderung, die bei ihm eine Lust am Leben war, erscheint mir als Quelle seiner Energie und Zielstrebigkeit – die manches Mal sein Umfeld überfordern konnte.

Dass David Shallons Engagement in Düsseldorf bereits nach sechs Jahren ein Ende fand, hatte verschiedene Gründe. Nicht zuletzt die Düsseldorfer Presse hat hierbei – und nicht nur bei ihm, sondern auch bei Vorgängern und Nachfolgern – einiges zu verantworten. Auch der erfolglose Kampf um eine Lösung für die dringlichen akustischen Probleme der Tonhalle, den berüchtigten „Klopfgeist“, ermüdete im Laufe der Jahre das Verhältnis zwischen Dirigent, Orchester und Stadt und überstieg selbst die Energien eines David Shallon. (Erst im neuen Jahrtausend, 2005, konnte im Rahmen einer zwingend notwendigen Sanierung des gesamten Baus, vorangetrieben durch einflussreiche Mitglieder des Fördervereins der Tonhalle, die akustische Neugestaltung des Kuppelsaals erfolgen.)

Doch gerade in der Rückschau auf die Konzert-Programme und -Formate wird deutlich, dass man mit Recht von einer „Ära Shallon“ sprechen darf, die das Musikleben in Düsseldorf gründlich verändert hatte – sowohl was die Erweiterung des Repertoires als auch die kommunikative Öffnung zum Publikum betraf, die David Shallon als kollegialer und innovativer Musiker betrieb. Es ist an der Zeit, diesen Teil der Düsseldorfer Musikgeschichte neu zu bewerten und zu würdigen.

Elisabeth von Leliwa

(Dramaturgin der Düsseldorfer Symphoniker ab 1987, leitende Dramaturgin der Tonhalle Düsseldorf 2003-2012)

Konzerte und Schallplattenaufnahmen (DECCA) von Mahlers „Das klagende Lied“ in Berlin standen unter einem nicht vom Chor des Musikvereins zu vertretenden ungünstigen Stern: Im Hintergrund war die anstehende Lösung Riccardo Chaillys vom damaligen RSO (heute: Deutsches Symphonie-Orchester) deutlich spürbar. Andererseits kam es zu einer herausragenden Produktion, die später sogar eine Grammy-Nominierung nach sich zog:

„Es war wohl eine Spätfolge dieser Nominierung, die Ende der 1980er Jahre zu einer höchst spektakulären Anfrage führte. Diesmal war allerdings nicht der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf gemeint, sondern sein Chordirektor Prof. Hartmut Schmidt. Im Zuge einer offensichtlich aufkommenden Nachfolgediskussion fragte der in den USA höchst renommierte Chicago Symphony Chorus an, ob sich Hartmut Schmidt vorstellen könne, die Nachfolge von Margaret Hillis anzutreten. Ich erinnere mich an längere Gespräche mit Prof. Schmidt, denn hinter einer solch ehrenhaften Anfrage stand natürlich auch ein potentieller Wechsel in ein anderes Land, eine andere Sprache, ein anderes Lebens-kulturelles Umfeld. Wir sprachen darüber, ob er sich wirklich vorstellen wolle, seine Heimat, seine Familie und sein bisheriges berufliches wie privates Umfeld zu verlassen. Letztlich hatte ich natürlich auch das Wohl unseres Chores im Auge, denn das hätte zwangsläufig den Wechsel in der Chorleitung auch für uns zur Folge. Prof. Schmidt kam dann –Gott-sei-Dank- zu dem Entschluss die Anfrage abzulehnen. Er tat dies auf dem Höhepunkt der nationalen wie internationalen Kariere des Musikvereins, und damit auch seiner eigenen Reputation.

Aber immerhin: Eine derartige Anfrage war auch so etwas wie eine Auszeichnung. Und so sollte man es auch für den Chor mit seinem damaligen künstlerischen Leiter sehen!“

Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus im Dezember 2017

Bild: Prof. Hartmut Schmidt - Hochverehrter Chordirektor des Musikvereins - von 1960 bis 1990

Wie ein Traum zerplatzte: Beethovens „Missa solemnis“ für EMI auf CD mit dem Royal Concertgebouw Orchestra unter Wolfgang Sawallisch mit Margaret Price, Hanna Schwarz, Peter Seiffert und John Tomlinson:

„Desaster ist schon kein Ausdruck mehr für das, was dem Musikverein im Juni 1993 widerfuhr: Im Anschluss an die Produktion der Beethoven Symphonien war in Amsterdam die Aufnahme der Missa solemnis für EMI unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch geplant. Für den Chor des Städtischen Musikvereins natürlich eine Verpflichtung aller erster Ordnung, wobei die Missa solemnis als Werk schon eine künstlerisch-technische Herausforderung ohne Gleichen darstellt. Ein solches Stück mit dem Royal Concertgebouw Orchestra unter Sawallisch für die Schallplatte zu produzieren ist für jeden Chor schlicht ein Traum.

Ich erinnere mich noch genau an den Telefonanruf von Kunibert Jung am Mittag des 2. Juni: „Die Missa ist abgesagt!“ Ich traute meinen Ohren nicht. Das war also der Super-GAU schlechthin. Die Missa für die Schallplatte und dann in diesem Rahmen! Es sollte ein Traum bleiben. Gisela Kummert –für die Organisation aller Konzertreisen damals verantwortlich- berichtete mir dann später: „Nach Monaten intensivster Proben und Vorbereitung stand der Chor buchstäblich mit gepackten Koffern an der Tonhalle um auf die Busse nach Amsterdam zu warten. Die Abfahrt war für Mittwoch, 2.6.1993, 13.30 Uhr vorgesehen. In der Nacht vorher, kurz vor Mitternacht des 1.Juni warf in meinem Büro ein an der Sache völlig unschuldiges Fax-Gerät eine verhängnisvolle Botschaft aus, die knapp und präzise verkündete: "Mit Blick auf die Absage von 2 der 4 Solisten haben wir uns entschließen müssen, das Werk abzusetzen!" Es war der reine Zufall, dass ich am Vormittag des 2.6. überhaupt noch einmal kurz an meiner Arbeitsstelle vorbeischaute, und so zumindest die Abfahrt der Busse verhindern konnte.“

Monate später saß ich mit Wolfgang Sawallisch im Dirigentenzimmer der Berliner Philharmonie und sprach noch einmal über dieses „Missa-Desaster“ mit ihm. Ich fragte, ob es denn irgendwann und irgendwo noch einmal eine Chance für eine gemeinsame Missa geben könne. Er meinte resigniert: „In diesem Leben wohl nicht mehr!“

So traurig es ist, er sollte Recht behalten.“

Wie hoch die Wertschätzung von Wolfgang Sawallisch dem Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf gegenüber war, beweist die Anfrage des Dirigenten, in der Spielzeit 1994/95 mit ihm Bachs Matthäus-Passion an der Mailänder Scala zu musizieren. Diesmal musste der Musikverein schweren Herzens absagen. Grund waren die äußerst anspruchsvollen Proben zu Edison Denissows „Morgentraum“, dessen Uraufführung für Januar 1995 als Auftragswerk des Musikvereins fest terminiert war.

Aber: Welch ein musikalischer Vertrauensbeweis!“

Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus im Dezember 2017

Bild: Sawallisch, Wolfgang (1923-2013)

Der Städtische Musikverein zu Düsseldorf war gemeinsam mit dem Philharmonia Chorus London im Concertgebouw Amsterdam um die „Grande Messe des morts“ von Hector Berlioz aufzuführen (Schallarchiv Vol. 11). Neeme Järvi war für Leonard Bernstein eingesprungen, dessen Plan Mahlers 8. zu dirigieren und aufzunehmen aus finanziellen Gründen kurzfristig abgesagt werden musste:

„Irgendwie hatten wir alle noch einen Kloß im Hals, denn das Projekt 8. Mahler wäre zu schön gewesen. Aber…..

Als wir am Abend des 9. November 1989 vom Podium kamen, fielen uns mehrere Mitglieder des Concertgebouw Orkest um den Hals und gratulierten. Dabei wussten wir nicht, wovon sie sprachen. Wir hörten immer nur „Berlin“ und „Mauer“, konnten das aber nicht so recht zuordnen. Als ich anschließend ins Hotel kam und den Fernseher anstellte, sah ich zwar die Bilder im Niederländischen TV, konnte aber die aufgeregten Kommentare nicht verstehen, da ich des Niederländischen so gut wie nicht mächtig war. In dieser Nacht der pausenlosen Live-Berichterstattung wurde mir dann langsam klar, dass es sich nicht um einen aufwendigen Spielfilm, sondern um Realität handelte.

Der kommende Tag, 10. November 1989 brachte noch mal das Berlioz-Requiem, was für mich allerdings bedeutete, dass ich nach dem Konzert sofort in meinen Wagen stieg und in Richtung Berlin fuhr. Die Ereignisse konnte ja niemand vorausahnen, und so kam es, dass ich mit klopfendem Herzen via Bad Oeynhausen auf die A2 Richtung Hannover-Berlin fuhr. Den Termin mit der staatlichen Künstleragentur und dem Intendanten des Schauspielhauses (heute: Konzerthaus), Herrn Schumann, hatte ich vor Monaten schon abgesprochen. Wir wollten an den großen Erfolg der DDR-Tournee vom Mai anknüpfen und nach Wegen suchen, vielleicht doch ein gemeinsames Konzertieren z.B. mit dem Gewandhausorchester in die Wege leiten.

Die Wegstrecke über die A 2 werde ich wohl niemals vergessen. Blau war der Dunst von 10.000den Trabis, die mir aus Richtung DDR entgegen kamen. Auf jeder Brücke standen hunderte Menschen mit selbst gemalten Bettlaken, auf denen stand „Willkommen!“ oder „Ab in die Freiheit!“ usw.

In Berlin kam ich dann zufällig exakt in dem Moment über die Leipziger Straße zum Potsdamer Platz, als Bundespräsiden von Weizsäcker auf einen DDR-Grenzsoldaten zuging und dieser dann die berühmt gewordene Meldung „Herr Bundespräsiden, melde: keine besonderen Vorkommnisse!“ über den Platz donnerte.

Am folgenden Montag war ich in Leipzig mit der Intendanz des Gewandhauses verabredet. Abends zog an meinem Hotelfenster eine jener überwältigenden Montagsdemonstrationen vorbei. Es ist mit Worten auch heute (2018) noch nicht zu beschreiben….“

Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus im Dezember 2018

Bild: Concertgebouw Amsterdam

Eines der gewaltigsten Konzert- und Schallplattenprojekte für den Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf waren die Aufführungen und Aufnahmesitzungen von Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ unter Riccardo Chailly in Berlin:

„Es waren ja noch „Vorwendezeiten“, und in Berlin (West) herrschte ein über Jahrzehnte „gepflegter“ Wettbewerb zwischen Karajans Philharmonikern und dem Rest der (Berliner) Welt, z.B. dem RSO (Radio-Symphonie-Orchester Berlin). Damals war Gerhard Hellwig, langjähriger Chef der „Schöneberger Sängerknaben“ und Ehemann der international bekannten Sängerin Janis Martin Intendant des Orchesters. Gerd Hellwig und ich waren noch aus meiner Bundeswehrzeit „alte Bekannte“. Hellwig war damals Intendant der Philharmonia Hungarica, mit der ich das erste Symphoniekonzert in einer Bundeswehrkaserne (als Wehrdienst leistender Gefreiter) organisieren durfte. Sein Nachfolger wurde Prof. Dr. Peter Ruzicka, den ich auf Hellwigs Empfehlung im damaligen Büro des RSO am Kaiserdamm besuchen durfte. Prof. Ruzicka hatte am 17. Juni 1982 in Düsseldorf anlässlich der Eröffnung des Strawinsky-Zyklus einen Festvortrag gehalten. Dabei waren die Herren des Städtischen Musikvereins mit „Le Roi des Etoiles“ Mitwirkende. Dies, und die Fürsprache des damals häufig als Gast beim RSO dirigierenden Bernhard Klee führten dazu, dass meine Gespräche mit Peter Ruzicka äußerst positiv verliefen. Riccardo Chailly war gerade Chefdirigent geworden, und es kamen Überlegungen auf, Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ sowohl im Konzert, als auch für die Schallplatte (DECCA) aufzuführen. Gemeinsam mit dem seinerzeit hervorragenden „Chor der St. Hedwigs-Kathedrale“ (der übrigens im Westteil der Stadt beheimatet war!) sowie einem auf weit über 150 Musikern aufgestocktem Orchester kam diese Riesenpartitur sowohl bei den Konzerten in der Philharmonie, wie auch bei den Aufnahmesitzungen in der hierfür weltweit bekannten Jesus-Christus-Kirche, Berlin-Dahlem zum Einsatz. Es wurden Gurre-Lieder in Originalfassung, die übrigens heute (2018) noch als unangefochtene Referenzaufnahme gelten. Die grausam-schwierige Tenor-Partie des Waldemar hatte DECCA mit Placido Domingo besetzen wollen. Aus welchen Gründen auch immer zerschlug sich dieses Vorhaben. In den Berliner Konzerten sang dann Heikki Siukola die Partie (Schallarchiv Vol. 119). DECCA nahm die entsprechenden Passagen ohne Tenor auf, um sie später dann in London von Siegfried Jerusalem  nach-synchronisieren zu lassen.“

Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus im Dezember 2017

Bild: Riccardo Chailly - Hartmut Schmidt - Kunibert Jung - in Berlin bei der CD-Produktion der Gurre-Lieder für DECCA.

Im Zusammenhang mit der EMI-Einspielung möglichst aller Chor-Orchesterwerke Robert Schumanns waren im Juni 1984 Aufnahmesitzungen zu den Balladen „Der Königssohn“, „Vom Pagen und der Königstochter“, „Des Sängers Fluch“ und „Das Glück von Edenhall“ angesetzt. Doch es kam anders:

Die Schumann-Einspielungen waren dem langjährigen und hoch angesehenen Produzenten der EMI-Electrola so etwas wie eine Herzensangelegenheit. In Zeiten, wo bereits nahezu das gesamte klassische Repertoire auf dem Weltmarkt als Tonträger greifbar war, gehörten die bislang völlig vernachlässigten Chor-Orchesterballaden zu den wenigen Edelsteinen, die es noch zu heben galt. Daher wurden die vier „Balladen für Soli, Chor und Orchester“ mit den hochkarätigsten Solisten besetzt, die das Haus Electrola zu bieten hatte: Doris Soffel, Walter Berry, Edda Moser, Josef Protschka, Peter Meven, Walton Grönroos, Ilse Gramatzki, Andreas Schmidt, und, und, und. Die Aufnahmen gestalteten sich schwieriger als gedacht, was vor allem an der gesundheitlichen Verfassung von Bernhard Klee lag. Nachdem OP. 116 und OP 140 „im Kasten“ waren, standen noch „Des Sängers Fluch“ und „Das Glück von Edenhall“ an. Die 3 Nummern der Erzählerin (1, 3 und 12 aus OP 139) mit Doris Soffel eingespielt waren, klappte Bernhard Klee entnervt seine Partitur zu und verließ mit den Worten „Ich kann das Zeug nicht!“ zum Entsetzen aller Beteiligten den großen Saal der Tonhalle. Klee, dessen innere Zerrissenheit schon so manchesmal seiner großen künstlerischen Qualität einen Streich gespielt hatte, verließ die Tonhalle mit den Worten „Ohne mich!“ Damit stand das Team, Solisten, Chor und Orchester vor einem Trümmerhaufen, zumindest, was das Gesamtprojekt betraf. Dr. Storjohann gelang es dann für September des Folgejahres Heinz Wallberg zu gewinnen, die begonnenen Aufnahmen von „Des Sängers Fluch“ sowie die Ballade „Das Glück von Edenhall“ zu einem glücklichen Ende zu bringen. Wallbergs so völlig unkomplizierte Art war nach den so problematischen Sitzungen unter Bernhard Klee für alle Mitwirkenden gleichsam eine „Erholung“.

Fazit: Geht doch!

P.S.: Damit kein Missverständnis aufkommt: Bernhard Klee war immer ein hoch sensibler und großartiger Künstler. Die Zeit mit ihm bleibt wohl allen, die damals dabei waren, in positivster Erinnerung. Klee wurde vom Chor geschätzt, ja geliebt. Trotzdem hatte dieses Ereignis natürlich die Folge, dass sich die Schallplattenindustrie von ihm distanzierte. Wolfgang Gülich (Tonmeister vieler Aufnahmen der EMI-Electrola) sagte einmal zu mir: „Das kann sich keine Schallplattenfirma der Welt leisten!“

Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus im Dezember 2017

Bild: Bernhard Klee

 

Es gibt Geschichten, die so endlos sind, dass sie eigentlich nur von Michael Ende erfunden sein können.

In der Chronik des Musikvereins zu Düsseldorf findet man eine solche "Geschichte", die mittlerweile Bestandteil der deutsch-deutschen Historie geworden ist:

„Angefangen hat alles am 14.12.1978, als ich anlässlich der Premiere „Le Nozze di Figaro“ von Mozart in der Deutschen Oper Berlin mir den Mut fasste, und den damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel unter Bezug auf seine Zeit als Außenminister fragte „Welchen Weg muss man gehen, um eine Konzertreise des Düsseldorfer Musikvereins in die DDR zu realisieren?“ Walter Scheel gab mir die Adresse des Kulturattaches der seinerzeitigen „Ständigen Vertretung“, Georg Girardet, den ich dann auch postwendend aufsuchte. Er verschaffte mir den Zugang zur staatlichen Künstleragentur der DDR.

Die musikalischen Bezüge zwischen Düsseldorf einerseits und Berlin, Dresden und Leipzig andererseits sind über die Biographien von Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy leicht nachzuvollziehen. Die politischen Realitäten und die sich kontinuierlich verstärkenden Unsicherheiten bzw. Befindlichkeiten in der DDR machten die Realisation einer solchen Tournee zu einem nicht enden wollenden 7-jährigen Abenteuer, das in der Schlussphase besonders hinsichtlich der organisatorisch Verantwortlichen nichts für Leute mit schwachen Nerven war. Zustande kam die größte Tournee, die jemals auf Konzertebene von Deutschland nach Deutschland realisiert wurde.

Hier nur kurz die Stichworte:

Düsseldorfer Symphoniker, Wuppertaler Kurrende, der Städtische Musikverein zu Düsseldorf, Dirigent (David Shallon mit israelischem Pass!), Solisten, Journalisten; das Ganze im Mai (!!!) 1989, aus dem Schauspielhaus (heute: Konzerthaus) am Berliner Gendarmenmarkt, 110 Min. (!) TV-Aufzeichnung durch das Fernsehen der DDR in Co-Produktion mit dem WDR, Köln; Programm: Schumann: Missa sacra, Mendelssohn: 2. Symphonie; Musikfestspiele Dresden (Schallarchiv-Vol. 107/110), Gewandhaus Leipzig: La Damnation de Faust von Hector Berlioz (Schallarchiv-Vol. 23), aufgezeichnet durch den Rundfunk der DDR, Studio Leipzig in Co-Produktion mit dem Deutschlandfunk (!) Köln –ein absolutes Novum in der deutschen Mediengeschichte- ; das alles nach Berlin (Ost) per Sonderzug der Deutschen Bundesbahn, von Leipzig nach Düsseldorf zurück per Sonderzug der Deutschen Reichsbahn; dazwischen mit 10 Bussen Berlin-Dresden-Leipzig.

Ministerpräsident Johannes Rau beim Empfang in Berlin: "Wer hätte das für möglich gehalten!?" und Kulturminister Hoffmann in (weiser) Voraussicht: "Ich glaube: Niemand braucht mehr vor den Deutschen Angst zu haben!“......

1989 war auch für diese Tournee nur ein winziges (Zeit-)Fenster offen; kurz zuvor waren die "berüchtigten" Wahlen in der DDR, im August setzte die Fluchtwelle über Ungarn und später Prag ein; am 9. November ging die Mauer auf (und der Musikverein sang im Concertgebouw Amsterdam das Requiem von Berlioz (Schallarchiv Vol. 11) unter der Leitung von Neeme Järvi.

Das ursprüngliche Konzept eines gemeinsamen Musizierens von Städtischem Musikverein einerseits mit einem Orchester aus (Ost-)Berlin, Dresden bzw. Leipzig andererseits war in 1989 nicht umsetzbar. Diese Idee sollte sich erst 1997 zumindest teilweise realisieren lassen. Der Musikverein war am Pfingstsonntag 1997 erneut Gast im großartigen schinkelschen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt zu Berlin und führte unter der Leitung von Michael Schønwandt gemeinsam mit dem Berliner Sinfonie Orchester (heute: Konzerthausorchester Berlin) den Elias auf (Schallarchiv-Vol. 15). Die Mendelssohn-Verbindung zu Leipzig symbolisierte der Knabensopran, der in Person eines Mitglieds des Leipziger Thomaner-Chores die Beziehung Düsseldorf-Berlin-Leipzig vervollständigte. (Gemeinsame Konzerte mit der Staatskapelle Dresden bzw. dem Gewandhausorchester Leipzig bleiben eine Aufgabe für die Zukunft)

Die Konzerte (es gab Wiederholungen in Düsseldorf und Duisburg) waren künstlerisch wie atmosphärisch ein großartiges Erlebnis für alle Beteiligten. Michael Schønwand „eroberte“ den Chor nicht zuletzt durch sein mitreißendes und sympathisches Wesen, was beim Musikverein sofort in geradezu hochdramatische Aufführungen umschlug. Der Deutschlandfunk zeichnete in Düsseldorf auf und sendete bundesweit.

Die Sensation für den Chor fand aber außerhalb der Konzertsäle statt: zumindest mir als seit 1990 in Berlin lebender und arbeitender „Neuberliner“ war zunächst überhaupt nicht klar was es für die Chormitglieder bedeutete, als die Busse zur ersten Probe im Konzerthaus am Gendarmenmarkt von der Siegessäule kommend durch das Brandenburger Tor und weiter über Unter den Linden in den (ehemalig so bezeichneten) „Ost“-Teil Berlins fuhren. Zuletzt, im Jahre 1989, hatte man ja genau dort gestanden: auf der Aussichtsplattform im Bezirk Tiergarten über die Mauer durch das Tor blickend auf  den im Hintergrund sichtbaren alten Berliner Prachtbouleward (März 1989); wenige Wochen später, im Mai 1989, wenige Meter weiter östlich am damaligen „Ende“ der „Linden“ stehend und gegen Tor und Mauer in Richtung Siegessäule blickend.

Und nun fuhr man einfach durch............ „

Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus im Dezember 2017

Bild: Gewandhaus in Leipzig -Berlioz: La Damnation de Faust - DDR-Tournee-Düsseldorfer Symphoniker - David Shallon (Schallarchiv Vol. 23 + 107)

Erstmals die TV-Aufzeichnung eines klassischen Konzertes aus der Tonhalle:

„Was im Rundfunk möglich ist, sollte doch auch für das Fernsehen denkbar sein! Mit dieser Überlegung fuhr ich ab 1982 mehrfach zum ZDF nach Mainz und traf mich dort mit dem für Konzerte zuständigen Abteilungsleiter Heinz Oepen. Mir war klar, dass eine TV-Aufzeichnung einen ungleich größeren Apparat in Bewegung setzen würde, als wir dies von Rundfunkübertragungen gewohnt waren. Gleichwohl war die Programmgestaltung der Knackpunkt schlechthin. Welche Werke passen rein zeitlich in die sakrosankten Raster-Abläufe eines Fernsehsenders? Interessant wurde unser Vorschlag, eine zumindest zeitliche Kongruenz zu den geplanten EMI-Produktionen der Schumann-Balladen („Der Königssohn“ und „Vom Pagen und der Königstochter“) herzustellen. Das gelang dadurch, dass mitten in den CD-Produktionstagen ein Feiertag war: Fronleichnam. Das ZDF fuhr großes Equipment auf, inklusive Ton. Merkwürdig war, dass der WDR (ARD) sein „Hausrecht“ in Sachen Tonaufzeichnung geltend machte, und es so zu einer Co-Produktion zwischen dem Zweiten Deutsche Fernsehen und dem Westdeutschen Rundfunk kam. Letzterer erschien dann tatsächlich auch mit eigenem Ü-Wagen, was aus Mainz so recht niemand verstand…..“

Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus im Dezember 2017

Bild: Düsseldorf: Tonhalle - Robert Schumann: Chorballaden - Düsseldorfer Symphoniker - Bernhard Klee - Fernsehproduktion

Durch die Verbindung der Orchester mit den Chören der jeweiligen Rundfunkanstalten war und ist es für den Chor des Städtischen Musikvereins kaum möglich, gemeinsame Projekte mit den Rundfunkorchestern der ARD zustande zu bringen. Es gab Ausnahmen:

„Zunächst stand für mich eine private Verbindung im Vordergrund. Meine damalige Freundin wohne in St. Ingbert, unweit von Saarbrücken. Meine Besuche im Saarland waren dann auch schnell Anlass, den Saarländischen Rundfunk und dort den Leiter der Abteilung E-Musik, Gideon Rosengarten aufzusuchen. Gemeinsam mit ihm und dem damaligen Chefdirigenten, den in St. Ingbert wohnenden Hans Zender, überlegten wir, was interessant sein könnte. Die Wahl fiel auf das von Bernhard Klee zusammengestellte Mozart-Schönberg-Mozart Programm. Der Rundfunk übertrug (natürlich) und so haben wir heute ein hervorragendes Tondokument in unserem Schallarchiv (Schallarchiv Vol. 19).“

Erinnerungen von Rainer Großimlinghaus im Dezember 2017

Bild: Konzertprogramm des Saarländischen Rundfunks, Saarbrücken