"David Reiland ergründet die doppelten Herztöne Schumanns. Seine 4. Symphonie entstand hörbar in der frühen Liebeseuphorie mit Clara. Die Erstfassung wurde zu ihrem Geburtstag fertig. Dass der Komponist danach noch zehn Jahre an dem Werk gefeilt hat, beweist, dass wahre Liebe eben auch in der Musik vor allem eins ist: echte Beziehungsarbeit. Während diese Liebeserklärung ohne Worte auskam, wird in »Schwarzer Schnee« von René Staar Klartext gesprochen. Der Wiener Komponist setzt jenen ein Denkmal, die den Mut und die Kraft aufbringen, uns über das oft verborgene Unrecht aufzuklären, das tagtäglich in unserer Welt geschieht" - so bewirbt die Tonhalle die bevorstehenden drei Sternzeichenkonzerte Anfang Mai auf ihrer Internetseite derzeit.
Die Uraufführung
René Staars neue Komposition sollte ursprünglich beim Menschenrechtskonzert am 19. März 2022 unter der Leitung von Adam Fischer uraufgeführt werde. Coronabedingt musste die Aufführung verschoben werden. Das Auftragswerk der Tonhalle Düsseldorf - auf Texte von Aslı Erdoğan, Cem Özdemir, René Staar, André de Bouchet, Giuseppe Ungaretti und Jannis Ritsos - für Sopran, Sprechstimme, Chor und ungarisches Cimbalom kommt nunmehr in den Sternzeichenkonzerten Anfang Mai 2024 zur Uraufführung, die Aufführungsdauer ist mit 22 Minuten angegeben.
Vorbereiten und erarbeiten
Seit mehreren Wochen - parallel liefen noch die Proben für Joseph Haydns Nelson-Messe zum Menschenrechtskonzert Ende Januar - erarbeitet der Chor des Städtischen Musikvereins in Einzel- und Gesamtproben der Damen- und Herrenstimmen das Klangmaterial, das im Klavierauszug der neuen
Komposition „Schwarzer Schnee“ des österreichischen Komponisten René Staar bereitgestellt ist. Krasser könnte der Unterschied zwischen der in „unsicheren Zeiten“ komponierten Haydn-Messe – mit dem Untertitel „in angustiis“! – und dem aktuellen Werk des zeitgenössischen Komponisten nicht sein: Dort die überlieferten Liturgietexte in traditioneller Klangwelt, die die damalige Zuhörerschaft mit hier und da ungewöhnlichen Harmonien und Paukenschlag-Effekten (Agnus Dei „Dona nobis pacem“!) aufschreckt, hier völlig fremde deutsche, französische, griechische und italienische Texte, vorgetragen von einer Sprecherin, einem Solo-Sopran, von Frauen-, Männer- und Gemischt-Chorpartien und empört dreinrufenden Chorsolisten, die die Schicksale von weiteren vermissten Regimekritikern aufgeklärt wissen wollen! Es geht um Unterdrückung und Erpressung, Hass und Folter, Mord und Totschlag und die Angst und Sorge der Angehörigen um Vermisste und Tote.
Begrüßen und zuhören
Am 4. April 2024 besuchte der 1951 in Graz geborene und in Wien zum Geiger, Pianist und Dirigent ausgebildete Komponist René Staar Düsseldorf und die Chorprobe des Städtischen Musikvereins. Nach der Begrüßung durch den Vorsitzenden Stefan Schwartze präsentierte Chordirektor Dennis Hansel-Dinar den Stand der Probenarbeit und ließ den Chor die ersten Takte des Werkes vortragen: die zurückliegenden Osterferientage sorgten dafür, dass nicht alle Partien sofort gedächtnispräsent verfügbar waren und Sorge machte sich breit, der Komponist würde sein Werk nicht wiedererkennen.
Erläutern und beraten
Dem war aber nicht so! Der Chorleiter hatte bereits durch frühere Telefonate mit René Staar dessen humorvolle und zugewandte Seite bei Fragen zur Interpretation hervorgehoben, und so zeigte sich dieser auch jetzt dem Chor gegenüber geradezu aufgeschlossen-freundschaftlich, wenn er mit eigener Stimmtechnik das Ein- und Ausatmen bestimmter Partien lautmalerisch vorführte. Wenn der Chor solche Passagen mit an- und abschwellenden „sch...“ und „ps...-Lauten“ einigermaßen gekonnt reproduzieren konnte, sparte er nicht mit Lob. Spezielle Fragen zu bestimmten Solo-Einsätzen wurden im Team geklärt.
Inhalt und Gestaltung
Der Rahmen, in dem das Szenario dargeboten wird, wirkt mit Einleitung, Durchführung und Schluss-Chor beinahe konventionell angelegt, vielleicht am ehesten vergleichbar mit der Werkgattung „Szenisches Oratorium“. Es beginnt ouvertürenhaft mit einem Bericht über die politischen und gesellschaftlichen Zustände in namentlich nicht genannten Ländern der Welt, vom Männerchor: in unmissverständlicher Sprech-Gesang-Schärfe vorgetragen:
„Die Repressionen gegen die Opposition nehmen Ausmaße an, bei denen man nicht umhinkommt, von einer Diktatur zu sprechen. Die Presse ist entweder gleich- oder ausgeschaltet. Hunderte Journalisten sitzen in Gefängnissen oder mussten das Land verlassen, um Verfolgung und Folter zu entgehen. Regierungskrisen, ein gescheiterter Militärputsch, die Verhaftung unliebsamer Personen und Schlägereien in der Nationalversammlung sind Normalität.“
Im Anschluss erzählt die Solo-Sopranistin von den Ängsten und psychischen Belastungen, die die „Repressionen gegen die Opposition“ im Land auslösen, unterstützt von emotionalen Vokalisen des Chores. Dann macht sich der Chor zur Stimme derer, die zum Verstummen gebracht sind, und beklagt die Hilflosigkeit im Zustand der Rechtlosigkeit. Die Sängerin hebt acht Einzelschicksale aus der Anonymität heraus, woraufhin Einzelstimmen aus dem Chor die Namen von Opfern in den Raum stellen, deren Schicksal man nicht kennt. 18 Namen versteht man; die Flut der folgenden geht im sprachlichen Durcheinander unter.
Was bleibt ist Hoffnungslosigkeit und Angst, in Rezitativ und Arie vorgetragen von der Sopranistin, eingeleitet durch das Paradoxon „hört auf die Toten zu töten“.
Der Schlusschor nach einem Text des griechischen Dichters Jannis Ritsos weckt Assoziationen christlicher Erlösungshoffnung „hinaufsteigen werden wir“, überdeckt und beherrscht jedoch von Ohnmacht und Trostlosigkeit:
„Θ’ανέβουμε πάνω...
Hinaufsteigen werden wir,
gestützt auf die Schultern der Toten,
die lose Erde auf der Brust,
in einer Trümmerprozession, und
die Feigenkakteen stehen [wie zum Appell] angetreten,
der Zeit entlang, sprachlos, antwortlos,
und dämpfen mit ihren breiten Händen
das Dröhnen der vergrabenen Glocke.“
Verstehen und vertrauen
In seinem Bemühen, für die schwierige Thematik seines Stückes eine Ausdrucksform von Sprache und Musik zu finden, die sowohl Ausführende wie Konzerthörer erreicht, greift der Komponist zu ungewöhnlichen Mitteln von unharmonischen Klang- und Geräuschbildungen in unterschiedlichsten Taktfolgen. Die völlig ungewohnten Schwierigkeiten der sprachtechnisch-chorischen Umsetzung fordern jedenfalls erheblichen Probeneinsatz aller Beteiligten.
Mit Wiedererinnern gelernter Passagen kehrte während der weiteren Probe auch die Sicherheit zurück, dem Komponisten auch heikle Stellen einigermaßen überzeugend präsentieren zu können. Schließlich wuchs auch mit den Erläuterungen seiner Intentionen das Verständnis für die mit ungewohnter Zeichensetzung dekorierte Gestaltung des Klavierauszuges und die Umsetzung des Themas in die zu Papier gebrachte Komposition.
Das Rätselraten um den Namen des Werkes klärte der Komponist damit auf, dass weißer Schnee an sich etwas Schönes und Liebenswertes sei, dass aber das, was in den Texten seiner Komposition sichtbar würde, das total Gegensätzliche sei: schmutzig, elend und schwarz. Dass er sein Opus 22 mit dem Zusatz „q“ ergänzt hat, sei der Thematik geschuldet, die alle seine Opus-22er Werke miteinander verbinden.
Zunehmend fanden die Sängerinnen und Sänger des Musikvereins während der Probe Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Umsetzung des schwierigen Themas; ihrer verantwortungsvollen Aufgabe bei der Umsetzung und Gestaltung des neuen Werkes sind sich alle bewusst.
Am Schluss der wegweisenden Probe dankte Dennis Hansel-Dinar sowohl dem Komponisten René Staar für dessen wertvolle Hinweise zu Inhalt und Einstudierung seines neuen Werkes „Schwarzer Schnee“ als auch Grant Sung, der ihn als Chorleiter, Korrepetitor und die Tenorfraktion verstärkender Sänger bestens vertrat, und nicht zuletzt - mit Vertrauen und Zuversicht in ein erfolgreiches Konzert - allen Sängerinnen und Sängern für ihr anhaltendes Engagement.